Kunstgeschichtliche, ästhetische und ideengeschichtliche Einordnung
Die Formgebung von Balance I und Balance II ist ohne die bildkünstlerischen Errungenschaften der Moderne kaum denkbar. Auf dem Gebiet der Skulptur bildet Auguste Rodin (1840–1917) die Wasserscheide zwischen einer traditionellen Kunstauffassung und der Modernen. Zwar steht bei ihm noch immer die menschliche Figur im Zentrum des Schaffens, jedoch verflüssigen sich bei ihm die Formen (gegenüber dem klassisch-akademischen Ideal), und erhalten eine zunehmend abstrakt-expressive Wertigkeit. Auch der subjektive schöpferische Akt gewinnt bei ihm an Bedeutung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt diese Tendenz in Deutschland eine radikale Weiterentwicklung mit den Bildwerken der sogenannten Expressionisten (z. B. bei Kirchner, Heckel oder Schmitdt-Rottluff), die sich durch afrikanische Stammeskunst inspirieren ließen. Archaisch anmutende Holzschnitte und -skulpturen stehen für ein urtümliches Lebensgefühl jenseits fortschreitender Technisierung und einer proliferierenden Massengesellschaft und werden Ausdrucksträger subjektiver Befindlichkeit. Parallel zu dieser Entwicklung vollzieht der Maler Kandinsky den Schritt in die Abstraktion (Aquarell 1910/11). Etwa zeitgleich entwickeln Picasso und Braque sogenannte kubistische Kunstwerke, Gemälde und Plastiken, die sich mit den zeitlichen und räumlichen Bedingungen optischer Wahrnehmung auseinandersetzen und die Einzelform facettenartig zergliedern; von Russland ausgehend schlägt sich der Drang zur Innovation in konstruktivistischen Skulpturen nieder (z. B. von Tatlin, Rodschenko, Gabo), nicht-figürlichen Affirmationen des technischen Fortschritts, die ihre Entstehung mathematischen Berechnungen verdanken.
Als eine Art Gegenposition zu dieser konstruktivistischen Strömung lassen sich die Skulpturen von Hans Arp (1887–1966) auffassen, die mit ihren glatten Oberflächen mikroskopisch betrachteten Amöben gleichen, heranwachsenden Organismen oder sich von innen ausdehnenden Zellmembranen. Arp trachtet mit diesen Werken danach, in Analogie zur Natur die Prinzipien des Wachsens und Keimens zu realisieren und dabei gestalterisch zu wirken „wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbildend.“ Alfred Hamilton Barr (der erste Direktor des Metropolitan Museums of Art in New York) hat für diese Art der Skulptur 1936 den Begriff der biomorphen Plastik geprägt.
Auch für den Bildhauer Henry Moore (1898–1986) trifft dieser Begriff zu, wenngleich in etwas eingeschränkter Weise. Im Unterschied zu den abstrakten Formen Arps steht bei ihm die Darstellung des Menschen im Vordergrund, blockhafte Gestalten mit überdimensionierten Gliedmaßen, langen Hälsen und kleinen Köpfen, denen ein konstruktivistischer Zug zu eigen ist: Gleichzeitig orientiert sich Moore an den Gesetzen der Natur: „Am tiefsten interessiert mich die menschliche Figur, doch habe ich die Gesetzlichkeiten von Form und Rhythmus beim Studium von Naturgebilden wie Kieselsteinen, Felsen, Bäumen, Pflanzen entdeckt.“ (Henry Moore). Diesem Diktum entsprechend haben seine Skulpturen etwas Urtypisches, menschliche Körper erinnern an den Rhythmus hügeliger Landschaften und ihre Ausführung folgt den Vorgaben des Materials und seinen Strukturen, sie ist materialgerecht. Beispielsweise wahrt Moore den Blockcharakter des Steins oder lässt die künstlerische Form entlang der Jahresringe oder der Maserung im Holz verlaufen.
Mit der biomorphen Bildhauerei, als deren Hauptvertreter hier lediglich Arp und Moore genannt seien, „öffnet sich [die Skulptur] für Analogien zu Wachstumskräften, -strukturen und -gesetzen. Daraus entsteht keine Gruppe, geschweige denn ein ‚Stil‘, wohl aber eine breite Richtung, die viele Richtungen fermentiert.“ (Manfred Schneckenburger)
Unter Vorgabe eines derart weit gefassten Begriffs der biomorphen Plastik, scheint es mir sinnvoll, auch die Skulpturen Balance I und Balance II in dessen Nähe zu rücken. Dabei ergeben sich vor allem Überschneidungen mit dem Werk von Henry Moore: In beiden Fällen nehmen das in der Natur vorgefundene Material, seine Formen und Gesetzmäßigkeiten unmittelbar Einfluss auf die künstlerische Form, und in beiden Fällen hat das künstlerische Schaffen sein Ziel in der Darstellung des Menschen. Auch spricht aus den Werken beider Künstler eine organische Vitalität. Diese wird allerdings bei Moore durch ein konstruktivistisches Element einerseits gedämpft, andererseits zu Monumentalität gesteigert. Bei den Skulpturen von Hans-Hinrich Sievers hingegen scheint die Lebendigkeit unbefangener und unmittelbarer den natürlichen Vorgaben zu folgen, dem Material des subfossilen Holzes mit seinen bizarren Verstrebungen. Dabei erreichen die Skulpturen einen Grad an Beseelung und expressiver Dynamik, der den Arbeiten Moores fremd ist.
Um dem spezifischen Charakter der Skulpturen noch etwas näher zu kommen, lassen sich weitere Bezüge in vielerlei Richtung herstellen. Ich denke etwa in Hinblick auf Balance II an eine gewisse Nähe zum Jugendstil mit seiner Affinität zu den Motiven der Bewegung und der Metamorphose. Letztere spielt auch in der Kunstauffassung des Theosophen Rudolf Steiner eine wichtige Rolle. Das Motiv der Verwandlung sollte seiner Vorstellung gemäß empfunden werden und der Verlebendigung der inneren Anschauung (Vorstellung von der göttlichen Kraft) dienen. Steiner versuchte damit Goethes Entdeckung der Metamorphose der Pflanze über ein naturwissenschaftliches Verständnis hinaus für seine ganzheitliche Weltanschauung fruchtbar zu machen und realisierte dieses Motiv bei der bildhauerischen Gestaltung seines Goetheanums. Es wäre zu fragen, inwiefern aus Balance I und Balance II nicht eine Kunstauffassung spricht, die Anknüpfungspunkte zur anthroposophischen Gedankenwelt aufweist.
Ein weiterer interessanter Aspekt scheint mir die formgestalterische Nähe von Balance I zum Surrealismus zu sein, zu dem ja übrigens auch Hans Arps Schaffen eine Affinität aufweist. Es sind die überzeichneten, grotesk fließenden Formen, die bei den Surrealisten die Gegenstände der Realität ins Traumhaft-Kosmologische entrücken. Einer ihrer Vertreter hat sich später wieder von diesem Ansatz entfernt, Alberto Giacometti (1901–1966), um die eigenwillige Formsprache seiner überlängten, an ausgeglühte Wunderkerzen erinnernde Menschengestalten mit schweren Klumpfüßen zu entwickeln, Existenzfiguren, die sich einer eindeutigen stilistischen Einordnung entziehen.
Bei den Skulpturen Balance I und Balance II liegen die Dinge ähnlich. Versucht man sie dennoch begrifflich genauer zu fassen, lassen sie sich vielleicht am besten als eine Position zwischen Biomorphismus und Expressionismus bezeichnen oder zugespitzt als ‚biomorpher Expressionismus‘. Abschließend böte es sich an, einen Blick auf Skulpturen aus Mooreiche und ihre Schöpfer zu werfen, was allerdings den Rahmen einer allgemeinen Einordnung sprengen würde. Es sei lediglich festgehalten, dass ein erstes Sondieren in diese Richtung nach Norddeutschland und Irland führte und damit zurück ins Zentrum der geheimnisvollen Welt der Moore.
Dr. Martin Hirschboeck