Über Balance I & II
von Dr. Martin Hirschboeck

Werkimmanente Betrachtung

In der Arbeit Balance I vollführt eine menschliche Gestalt mit einem überdimensionierten Bein einen gewaltigen Schritt nach vorn. Die Bewegung entfaltet eine so starke Hebelwirkung, dass die Figur nach hinten überzukippen droht. Mit ausgestreckten Armen ringt sie nach Halt und versucht das Gleichgewicht wieder einzufangen. Die Figur ist auf Allansichtigkeit hin konzipiert und wirkt bisweilen übermütig und optimistisch, meist jedoch hilflos oder zumindest grotesk. Der Bildhauer selbst beschreibt das Thema seiner Arbeit als einen existenziellen Balance­akt. Die Skulptur drücke aus, „wie das Leben insgesamt so spielt. Balance I soll dar­stellen, wie wir mit großen Schritten versuchen, nach vorne zu gehen und dann aber doch leicht ins Wanken kommen und aufpassen müssen, dass wir nicht hinten rüber fallen.“

Die Form des menschlichen Körpers folgt dabei nicht anatomischen Gesetzmäßigkeiten: Der Kopf ist zu einem eiförmigen Gebilde reduziert, die Arme sind verstümmelt und die Beine entweder zu schmal oder zu lang, wobei das erhobene Bein in surreal anmutenden Kurven schlingert. Die schwarze, ölig-glänzende Oberfläche betont den Eindruck des Schwankens und bewirkt, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, die Skulptur sei aus dunkel patinierter Bronze gegossen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch zahlreiche Vertiefungen, Risse und andere Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche erkennen, die in der zerklüfteten Basis ihre stärkste Ausprägung finden und sich als Holzmaserungen identifizieren lassen.

Die Skulptur ist aus Mooreiche gefertigt worden, einem subfossilen, nahezu schwarzen Holz. Vor diesem Hintergrund scheint sich auch ein Stück weit ihre äußere Form zu erklären, die sich auf ein knorriges Holzstück (Wurzelholz?) zurückzuführen lassen scheint, dem das Thema der grotesk balancierenden Gestalt bereits eingeschrieben war. Durch den assoziativen Blick des Künstlers wurde der Bildgegenstand sozusagen den Natur­formen enthoben und bildhauerisch ausgearbeitet. Kongenial zu dieser Vorgehensweise und dem Bild­thema verhalten sich auch die symbolischen Eigenschaften des Holzes. Einerseits steht es für Kraft und Wachstum, andererseits thematisieren die tiefschwarze Färbung, seine verwitterte Ober­fläche und die morbiden, gespenstischen Formen Vergänglichkeit und Tod und werfen zusammen mit dem hohen Alter des Materials, das zwischen 800 und 10000 Jahren betragen kann, grundsätzliche Fragen nach den Gesetzmäßigkeiten und dem Lauf des Lebens auf. Dabei mag auch der Herkunftsort Inspirationsquelle gewesen sein, das Moor als Hort zivilisatorischer Relikte aus der Frühzeit der Menschheits­geschichte.

Wie der Titel der zweiten Arbeit Balance II schon besagt, geht es auch hier um das Austariere­n von Formen und Kräften, und auch diesmal ist der Mensch Thema. Allerdings ist der Grad der Abst­raktion höher als zuvor. Es bedarf einiger Zeit, bis sich der Betrachter in das Spiel der flammen­artig empor windenden Gebilde eingesehen hat und er der beiden Oberkörper mit überm Haupt verschränkten Händen gewahr wird. Offenbar geht es um die Begegnung – ein „Intermezzo“ (Sievers) – zweier Menschen, die sich umtanzen, balancierend umwinden und durchdringen, jedoch bleibt ihre Mitte leer: Ist hiermit ein kommunikatives Defizit, gar die Möglichkeit des Scheiterns ihrer Begegnung angesprochen? Die Verknüpfung mit dem oben erwähnten Assoziationsspektrum des Mate­rials, aus dem die Skulptur gefertigt ist, dürfte auch hier intendiert sein.

Kunstgeschichtliche, ästhetische und ideengeschichtliche Einordnung

Die Formgebung von Balance I und Balance II ist ohne die bildkünstlerischen Errungenschaften der Moderne kaum denkbar. Auf dem Gebiet der Skulptur bildet Auguste Rodin (1840–1917) die Wasserscheide zwischen einer traditionellen Kunstauffassung und der Modernen. Zwar steht bei ihm noch immer die menschliche Figur im Zentrum des Schaffens, jedoch verflüssigen sich bei ihm die Formen (gegenüber dem klassisch-akademischen Ideal), und erhalten eine zunehmend abstrakt-expressive Wertigkeit. Auch der subjektive schöpferische Akt gewinnt bei ihm an Bedeutung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt diese Tendenz in Deutschland eine radikale Weiterentwicklung mit den Bildwerken der sogenannten Expressionisten (z. B. bei Kirchner, Heckel oder Schmitdt-Rottluff), die sich durch afrikanische Stammeskunst inspirieren ließen. Archaisch anmutende Holzschnitte und -skulpturen stehen für ein urtümliches Lebensgefühl jenseits fortschreitender Technisierung und einer proliferierenden Massengesellschaft und werde­n Ausdrucksträger subjektiver Befindlichkeit. Parallel zu dieser Entwicklung vollzieht der Maler Kandinsky den Schritt in die Abstraktion (Aquarell 1910/11). Etwa zeitgleich ent­wickeln Picasso und Braque sogenannte kubistische Kunstwerke, Gemälde und Plastiken, die sich mit den zeitlichen und räumlichen Bedingungen optischer Wahrnehmung auseinandersetzen und die Einzelform facettenartig zergliedern; von Russland ausgehend schlägt sich der Drang zur Innovation in konstruktivistischen Skulpturen nieder (z. B. von Tatlin, Rodschenko, Gabo), nicht-figürlichen Affirmationen des technischen Fortschritts, die ihre Entstehung mathematischen Berechnungen verdanken.

Als eine Art Gegenposition zu dieser konstruktivistischen Strömung lassen sich die Skulpture­n von Hans Arp (1887–1966) auffassen, die mit ihren glatten Oberflächen mikroskopisch betrachteten Amöben gleichen, heranwachsenden Organismen oder sich von innen ausdehnenden Zellmembranen. Arp trachtet mit diesen Werken danach, in Analogie zur Natur die Prinzipien des Wachsens und Keimens zu realisieren und dabei gestalterisch zu wirken „wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbildend.“ Alfred Hamilton Barr (der erste Direktor des Metropolitan Museums of Art in New York) hat für diese Art der Skulptur 1936 den Begriff der biomorphen Plastik geprägt.

Auch für den Bildhauer Henry Moore (1898–1986) trifft dieser Begriff zu, wenngleich in etwas eingeschränkter Weise. Im Unterschied zu den abstrakten Formen Arps steht bei ihm die Darstellung des Menschen im Vordergrund, blockhafte Gestalten mit überdimensionierten Glied­maßen, langen Hälsen und kleinen Köpfen, denen ein konstruktivistischer Zug zu eigen ist: Gleichzeitig orientiert sich Moore an den Gesetzen der Natur: „Am tiefsten interessiert mich die menschliche Figur, doch habe ich die Gesetzlichkeiten von Form und Rhythmus beim Studium von Naturgebilden wie Kieselsteinen, Felsen, Bäumen, Pflanzen entdeckt.“ (Henry Moore). Diesem Diktum entsprechend haben seine Skulpturen etwas Urtypisches, menschliche Körper erinnern an den Rhythmus hügeliger Landschaften und ihre Ausführung folgt den Vorgaben des Materials und seinen Strukturen, sie ist materialgerecht. Beispielsweise wahrt Moore den Blockcharakter des Steins oder lässt die künstlerische Form entlang der Jahresringe oder der Maserung im Holz verlaufen.

Mit der biomorphen Bildhauerei, als deren Hauptvertreter hier lediglich Arp und Moore genannt seien, „öffnet sich [die Skulptur] für Analogien zu Wachstumskräften, -strukturen und -gesetzen. Daraus entsteht keine Gruppe, geschweige denn ein ‚Stil‘, wohl aber eine breite Richtung, die viele Richtungen fermentiert.“ (Manfred Schneckenburger)

Unter Vorgabe eines derart weit gefassten Begriffs der biomorphen Plastik, scheint es mir sinnvoll, auch die Skulpturen Balance I und Balance II in dessen Nähe zu rücken. Dabei ergeben sich vor allem Überschneidungen mit dem Werk von Henry Moore: In beiden Fällen nehmen das in der Natur vorgefundene Material, seine Formen und Gesetzmäßigkeiten unmittelbar Einfluss auf die künstlerische Form, und in beiden Fällen hat das künstlerische Schaffen sein Ziel in der Darstellung des Menschen. Auch spricht aus den Werken beider Künstler eine organische Vitalität. Diese wird allerdings bei Moore durch ein konstruktivistisches Element einerseits gedämpft, andererseits zu Monumentalität gesteigert. Bei den Skulpturen von Hans-Hinrich Sievers hingegen scheint die Lebendigkeit unbefangener und unmittelbarer den natürlichen Vorgaben zu folgen, dem Material des subfossilen Holzes mit seinen bizarren Verstrebungen. Dabei erreichen die Skulpturen einen Grad an Beseelung und expressiver Dynamik, der den Arbeiten Moores fremd ist.

Um dem spezifischen Charakter der Skulpturen noch etwas näher zu kommen, lassen sich weitere Bezüge in vielerlei Richtung herstellen. Ich denke etwa in Hinblick auf Balance II an eine gewisse Nähe zum Jugendstil mit seiner Affinität zu den Motiven der Bewegung und der Metamorphose. Letztere spielt auch in der Kunstauffassung des Theosophen Rudolf Steiner eine wichtige Rolle. Das Motiv der Verwandlung sollte seiner Vorstellung gemäß empfunden werden und der Verlebendigung der inneren Anschauung (Vorstellung von der göttlichen Kraft) dienen. Steiner versuchte damit Goethes Entdeckung der Metamorphose der Pflanze über ein naturwissenschaftliches Verständnis hinaus für seine ganzheitliche Weltanschauung fruchtbar zu machen und realisierte dieses Motiv bei der bildhauerischen Gestaltung seines Goetheanums. Es wäre zu fragen, inwiefern aus Balance I und Balance II nicht eine Kunstauffassung spricht, die Anknüpfungspunkte zur anthroposophischen Gedankenwelt aufweist.

Ein weiterer interessanter Aspekt scheint mir die formgestalterische Nähe von Balance I zum Surrealismus zu sein, zu dem ja übrigens auch Hans Arps Schaffen eine Affinität aufweist. Es sind die überzeichneten, grotesk fließenden Formen, die bei den Surrealisten die Gegenstände der Realität ins Traumhaft-Kosmologische entrücken. Einer ihrer Vertreter hat sich später wieder von diesem Ansatz entfernt, Alberto Giacometti (1901–1966), um die eigenwillige Formsprache seiner überlängten, an ausgeglühte Wunderkerzen erinnernde Menschengestalten mit schweren Klumpfüßen zu entwickeln, Existenzfiguren, die sich einer eindeutigen stilistischen Einordnung entziehen.

Bei den Skulpturen Balance I und Balance II liegen die Dinge ähnlich. Versucht man sie dennoch begrifflich genauer zu fassen, lassen sie sich vielleicht am besten als eine Position zwischen Biomorphismus und Expressionismus bezeichnen oder zugespitzt als ‚biomorpher Expressionismus‘. Abschließend böte es sich an, einen Blick auf Skulpturen aus Mooreiche und ihre Schöpfer zu werfen, was allerdings den Rahmen einer allgemeinen Einordnung sprengen würde. Es sei lediglich festgehalten, dass ein erstes Sondieren in diese Richtung nach Norddeutschland und Irland führte und damit zurück ins Zentrum der geheimnisvollen Welt der Moore.

Dr. Martin Hirschboeck